Die einst größte Papierfabrik des Kontinents

Von der „Dütenfabrik“ zum Bildungszentrum Bestehornpark
(in: BAUKULTUR 5_2016, S. 16-17)

Um 1850 war es in einem kaufmännischen Kleinbetrieb üblich, in geschäftsfreien Stunden die benötigten Papiertüten durch Auszubildende und Gehilfen selbst herzustellen. Dies führte bei Heinrich Christian Bestehorn, 1831 in Aschersleben geboren, zu dem Gedanken, diese Arbeit außerhalb des Ladengeschäfts in einem eigens dafür eingerichteten Betrieb fertigen zu lassen. So begann eine außerordentliche Erfolgsgeschichte.

„Dütenfabrik“ und Papiergeschäft
Am 1.4.1861 eröffnete Heinrich Christian Bestehorn einen schlichten Geschäftsbetrieb zur Herstellung von Papierbeuteln und Spitztüten in der Liebenwahnschen Vorstadt Nr. 987 mit einem Anfangskapital von rund 1.500 Talern und zunächst 6 Arbeitskräften. Drei Monate später war neben der „Dütenfabrik“ ein Papiergeschäft en-gros eingerichtet, das Briefpapiere in allen Sorten mit und ohne Firmenstempel sowie Packpapiere in Rollen und in sämtlichen gangbaren Formaten zu billigsten Preisen offerierte. In den ersten Jahren wurden hauptsächlich Tüten und Beutel ohne Druck hergestellt, die dann in Hettstedt bedruckt wurden. Ab 1865 konnten die Verpackungsmittel durch die erste Buchdruckschnellpresse in der Firma selbst bedruckt werden.

Bestehorn 1895
Briefkopf der Papierwaren-Fabrik H.C. Bestehorn, 1895 (Quelle: Stadtarchiv Aschersleben)

Maschinelle Herstellung
Auf der Weltausstellung in Paris 1867 sah H.C. Bestehorn eine an Transmission laufende Maschine mit Dampfbetrieb zur Herstellung von Briefumschlägen (20.000–25.000 Umschläge in 8,5 Arbeitsstunden), erkannte ihre Bedeutung und kaufte sie. Er ließ sie von seinem Bruder Ludwig, Ingenieur und „Maschinen-Construkteur“, in einer eigens hierzu errichteten Werkstatt nachbauen. Bald standen 12 dieser „Couvert-Maschinen“ – mit weiteren Verbesserungen eigener Erfindung ganz geheim gebaut – in der (noch) kleinen Fabrik. Während andere die Briefumschläge mit der Hand oder auf Tretmaschinen herstellen mussten, leisteten die Bestehornschen Maschinen das Zehn- und Zwanzigfache, ohne dass es die Konkurrenten ahnten. Im Adressbuch 1870 bezeichnete sich H.C. Bestehorn als „Düten- und Cartonagenfabrikant“, und zur „Fabrik von Düten, Brief-Couverts, Geschäfts-Büchern und div. anderen Papierwaaren“ gehörten eine „Buchdruckerei, Liniir- und Präge-Anstalt“.

Unternehmerischer Weitblick
Die Erfindung des ersten zusammenfaltbaren Telegrammformulars durch H.C. Bestehorn, das auch ohne Umschlag die Geheimhaltung des Inhalts ermöglichte, führte 1872 zum Auftrag, im Alleinvertrieb die Lieferung sämtlicher neu eingeführter Telegrammformulare zu realisieren. Schon damals wurden große Mengen gebraucht, denn jede Postanstalt des gesamten Deutschen Reiches war mit Telegrammformularen auszustatten. Häufig musste die ganze Nacht durchgearbeitet werden, um alle einlaufenden Aufträge pünktlich bewältigen zu können. Als Dank für die Erleichterung und Verbilligung im Depeschenverkehr erhielt H.C. Bestehorn 1873 den Entwicklungsauftrag für ein Zweisiegelkuvert, das den bisher fünfmal gesiegelten Briefumschlag für Geldsendungen ablösen sollte. Er ließ in unternehmerischer Voraussicht so viele Umschläge auf Vorrat anfertigen, dass er in der Umgebung Scheunen anmieten musste, um seine Ware lagern zu können. Nach der Verabschiedung des entsprechenden Gesetzes konnte er dann konkurrenzlos den Markt versorgen.

Bauliche Expansion
Bereits 1874 erstreckte sich die „Papierwaaren-Fabrik v. H.C. Bestehorn“ auf die Häuser Nr. 987 bis 989, und in ihrer Buchdruckerei standen 5 Schnellpressen. Als 1875 eine Neuordnung der Straßen und Stadtteile erfolgte, wurde aus der „Liebenwahnschen Vorstadt“ die „Wilhelmstraße“. Die Firma Bestehorn hatte nun die Adresse Wilhelmstraße 31. Im gleichen Jahr ließ sich H.C. Bestehorn seine Villa an der Herrenbreite Nr. 3 bauen. Ende der 1870er Jahre wurde das erste große Fabrikgebäude in der Wilhelmstraße errichtet und 1890 die Fabrik um den sog. “Löwenbau” (wegen der Löwenköpfe an der Gebäudefassade, später abgerissen), erweitert.
Zum 25-jährigen Jubiläum der Firma 1886 gab es bereits 18 Couvert-Maschinen, von denen jede einzelne täglich über 25.000 Couverts lieferte, unterstützt von 10 Dampfschnellpressen, welche die Couverts, Tüten und Beutel bedruckten. Anfang der 1890er Jahre genügte für viele Verpackungen der ein- und mehrfarbige Buchdruck nicht mehr. Kunstvollere Ausstattungen erforderten die Einrichtung einer lithographischen Abteilung. Zu dieser Zeit waren bereits über 300 Beschäftigte in der Firma.

Bestehorn 1911
Anlässlich des 50-jährigen Firmenjubiläums entstand 1911 durch Stadtbaurat Hans Heckner das neue repräsentative Hauptgebäude an der Wilhelmstraße (Quelle: Städtisches Museum Aschersleben)

Erneute bauliche Erweiterung
Es gab Anfang des 20. Jahrhunderts kaum eine Branche, für die Bestehorn nicht arbeitete. Massenaufträge in einfachen Packungen für Margarine, Malzkaffee, Tee, Kakao, Zigarren und Zigaretten usw. wurden ebenso ausgeführt wie feinste, künstlerisch angelegte lithographische Arbeiten. Die Fabrik entwickelte und lieferte u. a. die ersten Verpackungen für Persil und Oetker. Ungefähr zu gleicher Zeit entstand eine reorganisierte und mit neuesten Maschinen ausgestattete Briefumschlag-Abteilung, die sich zur größten Produktion Deutschlands entwickelte.
Unter Leitung der Söhne Otto und Richard erfolgte bis 1902 eine erneute Erweiterung der Firma, später der „Altbau” genannt. Über 600 Arbeitskräfte waren damals in der bereits ca. 16.000 m2 großen Fabrik beschäftigt, außerdem über 300 Frauen, die in Heimarbeit für wenige Pfennige mit „Dütenkleben“ ihren Unterhalt verdienten. Nach seiner Ernennung zum Kommerzienrat 1887 war H.C. Bestehorn 1899 zum Geheimen Kommerzienrat und an seinem 70. Geburtstag zum Ehrenbürger der Stadt Aschersleben ernannt worden. Am 29.4.1907 verstarb er.

Mitteldeutsche Industriearchitektur
1909 erfolgte der Abbruch von Häusern in der Wilhelmstraße für einen weiteren Neubau, und 1910 wurde mit dem Bau des neuen Hauptgebäudes mit Dreibogentor und Wasserturm nach Entwürfen des frisch gewählten Stadtbaurats Dr. Hans Heckner begonnen. Sie bilden ein beeindruckendes Ensemble mitteldeutscher Industriearchitektur.
1911 feierte die Firma „H.C. Bestehorn, Großbetrieb für Papierverarbeitung“, die sich nun in der Wilhelmstraße Nr. 22 bis 31 erstreckte und in der zu dieser Zeit einschließlich einer großen Anzahl von Heimarbeiterinnen ca. 2.000 Menschen beschäftigt waren, ihr 50-jähriges Bestehen. Den Firmenbesitzern Otto und Richard Bestehorn verlieh man am 1.4.1911 aus diesem Anlass die Ehrenbürgerschaft der Stadt Aschersleben. In seiner Festrede im Bestehornhaus resümierte Kommerzienrat Otto Bestehorn: „Unser Gesamtunternehmen aber bedeutet, was wir ohne Ueberhebung sagen können, heute in seiner Art das größte des ganzen Kontinents. Wie unser Geschäft gewachsen ist, erkennt man am besten aus der Steigerung der Jahresumsätze: Seit 1903 hat sich der Umsatz verdoppelt, seit 1896 vervierfacht, seit 1892 versechsfacht, und seit unserem Eintritt in die Firma, 1885, verzehnfacht. Jetzt vollenden wir wieder einen großen Erweiterungsbau, der unsere Leistungsfähigkeit abermals verdoppeln soll. Wir haben also noch nicht die Absicht, die Hände in den Schoß zu legen, sondern halten treu zu unserer alten Devise: Mit voller Kraft vorwärts!“

Bildungszentrum Bestehornpark
Das Ensemble befand sich bis 1945 im Besitz der Familie Bestehorn und wurde nach der Enteignung als VEB OPTIMA weitergeführt. Zwischen 1991 und 2003 stand fast das gesamte Fabrikgelände leer. Ab 2003 erfolgte der Abriss der Hallen bis auf das Ensemble von Hans Heckner. Zwischen 2003 und 2010 wurde das 3 ha große Areal im Rahmen der Internationalen Bauausstellung IBA Stadtumbau 2010 und der Landesgartenschau 2010 zu einem Bildungszentrum umgestaltet. Das Architekturbüro LRO Lederer Ragnarsdóttir Oei aus Stuttgart hatte 2006 den europaweiten städtebaulichen Realisierungswettbewerb gewonnen.

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