Geo- und Umweltzentrum in Tübingen
(in: BAUKULTUR 1_2018, S. 26-27)
Der Stuttgarter Künstler Martin Bruno Schmid hat im Rahmen des Kunst-am-Bau-Projekts für das neue Geo- und Umweltzentrum in Tübingen tragende Betonstützen durchschnitten. Das Projekt thematisiert die Grenzen der Belastbarkeit massiver Bauwerke und verweist im übertragenen Sinne darauf, wie fragil das System Erde ist.
Das neue Geo- und Umweltforschungszentrum in Tübingen (Visualisierung: Kaan Architecten)
Kunst am Bau
Kunst am Bau gehört zu den Bauherrenaufgaben des Bundes und ist integrales Element der Baukultur in Deutschland. Kunst am Bau muss als öffentliche Kunst bestimmten Kriterien genügen und wird durch Wettbewerbe bestimmt. Von den Künstlern wird ein eigenständiger künstlerischer Beitrag zur Bauaufgabe erwartet, der einen Bezug zur Architektur oder zur Funktion des Bauwerks herstellt und durch künstlerische Qualität und Aussagekraft beeindruckt. Bei großen Baumaßnahmen werden 0,5 % und bei kleineren bis zu 1,5 % der Bauwerkskosten für Kunst am Bau eingesetzt.
Bohrschnitt, prekär
Für das neue Geo- und Umweltforschungszentrum (GUZ) der Universität Tübingen nach Plänen des niederländischen Architekturbüros KAAN Architecten hatte das Land Baden-Württemberg einen Kunst-am-Bau-Wettbewerb ausgeschrieben, den Martin Bruno Schmid mit seiner Arbeit „Bohrschnitt, prekär“ gewonnen hat. Er schuf damit eine eng mit dem Bauwerk verknüpfte Kunst, deren Symbolgehalt Fragen des heiklen Zustands unserer Natur und Zivilisation aufwerfen. Insgesamt 5 Stützen der hohen Stützenreihe im Foyer werden senkrecht aufgeschnitten. Die spröden Schnitte und Bohrungen wirken verstörend, sind eine gezielt gesetzte Irritation, die Aufmerksamkeit erregt und zum Denken drängt. Im Inneren wird roh behauenes Gestein sichtbar, Zwiespalte bezüglich der Grenzen der Tragfähigkeit stellen sich ein. Im Wettbewerb galt es, einen Bezug zu den inhaltlichen Schwerpunkten des GUZ zu schaffen. Die Geowissenschaften beschäftigen sich mit der Erforschung der naturwissenschaftlichen Aspekte des Systems Erde und an der Schnittstelle zur Ingenieurwissenschaft auch mit der Technik, die zur Erkundung und Nutzbarmachung der Natur dient. Für den Künstler war eine derart baubezogene Aufgabe herausfordernder Teil der freien künstlerischen Auseinandersetzung, die schon konzeptionell eine frühe Einbindung in die Phase der Bauplanung und Ausführung vorsah.
Die klassisch anmutende Stützenreihe verweist durch gezielte Bohrungen und Schnitte auf die Grenzen der Belastbarkeit des Systems Erde (Visualisierung: Alex Kern)
Künstlerischer Impuls
Drei Dingen fallen ins Auge: Das Projekt veranschaulicht die Schönheit (venustas) der antik anmutenden Säulenreihung. Ihre Festigkeit (firmitas) wird durch den Eingriff bedroht. Die Frage nach der Nützlichkeit (utilitas) brüchiger, angegriffener Systeme wird aufgeworfen. Bewusst oder unbewusst wirken die Vitruv‘schen Werte zur Architektur bis heute. Die Arbeit an den Betonstützen ähnelt klassischen Bearbeitungsweisen von Steinmetzen, assoziiert gestaltende Bildhauerei. Gleichzeitig verweisen die Steinbruchtechniken auf die Erdbohrungen und Abspaltungen im Fels, die Geowissenschaftler zur Erkundung von Erdschichten vornehmen. Der Künstler, der den Riss sichtbar macht, deutet auf die natürliche Materialität im Inneren, auf unsichtbare Kräfte und auf die Brisanz menschlicher Eingriffe. Indem er durch seine erodierende Intervention gemeinsam mit den Statikern und Bauausführenden an die Grenzen der Belastbarkeit der tragenden Säulen geht, versinnbildlicht er auch die Art der Zusammenarbeit, die heute von hochkomplexen Prozessen verlangt wird.
Mittels Kernbohrer werden die vertikal angeordneten Löcher gebohrt (Foto: Martin Bruno Schmid)
Work in Progress
In die Entwurfszeichnungen wurden Schnitte skizziert, deren jeweilige Länge, Lage und Ausrichtung sich erst im Verlauf des Bauprozesses bestimmen ließen. Zunächst wurde jede Säule dahingehend berechnet, bis zu welchem Punkt die Grenzen der Belastbarkeit ausgereizt werden konnten. Erst später ließ sich auch visuell ablesen, wie die Lasten verteilt sind. Je größer sie waren, desto kürzer fiel der Schnitt aus. Die Statiker mussten bis ans rechnerische Maximum gehen, an ihre Vorgaben hatte sich der Künstler zu halten. Das beinhaltete auch, dass die Bewehrung nicht tangiert werden durfte, was sich auf die Positionierung der Schnitte auswirkte. Beim Rohbau hielt man sich exakt an den Schalungsplan und folgte einer Orientierungshilfe: Der Stoß der Schalung markierte die Stellung der innenliegenden, vertikalen Bewehrungsstäbe. So konnte die erste Bohrung ohne Gefahr ausgeführt werden. Ein eigens gefertigter Bohraufsatz fräste im Abstand von wenigen Zentimetern 32 mm dicke Kernbohrungen aus der Betonstütze. Diese schufen die Ansatzpunkte zur Linienführung einer diamantbesetzten Seilsäge, mit der der 12 mm starke vertikale Schnitt ausgeführt wurde.
Konstruktives Zusammenspiel
Kunst kann mit simplen Angriffen an die Grenze gehen, mit Kräften spielen und heikle Aspekte thematisieren. Für Martin Bruno Schmid ist die vertrauensvolle Übertragung von Verantwortung, das kreative und konstruktive Zusammenwirken vieler Beteiligter ein wesentlicher Bestandteil seines Werks. Erst im Bauprozess hat sich erwiesen, wie umfassend und stimmig seine gedankliche Konzeption für „Bohrschnitt, prekär“ von Anfang an war.