Tobias Nöfer
(in: BAUKULTUR 5_2019, S. 3)
Liebe Leserinnen und Leser,
verehrte Freunde der Baukultur,
Berlin ist unter Druck. Die Stadt des Mauerfalls, die wiedergeborene Hauptstadt, die Stadt, die immer attraktiver wird für die internationale Jugend und viele andere hat Wachstumsschmerzen. Die große Anziehungskraft ist nicht nur im Verkehr zu spüren, auch die Mieten stiegen in den letzten drei Jahren jährlich um 6–9 %, von den Preisen für Eigentumswohnungen ganz zu schweigen. Für viele Berliner wird die Situation ungemütlich, und die Frage, ob man sich die Stadt in Zukunft noch leisten kann, erfasst viele. Es muss mehr gebaut werden, das sagt nicht nur die Logik des Marktes, sondern das weiß auch die Politik. Doch sie schafft es offenbar nicht, den veränderungsmüden Berlinern klar zu machen, dass das auch vor der eigenen Haustür passieren muss. Allgemein ist man sich einig, doch wenn es konkret wird, geht gar nichts mehr. Und es ist der Verwaltung nicht mehr möglich, beweglich und schnell zu sein, zu sehr hat die Wohlstandsgesellschaft sie mit Verfahren und Regeln umstellt.
So kommt Panik auf, und die ist bekanntlich kein guter Ratgeber. Nicht anders kann man die Diskussionen um Enteignungen und Mietendeckel verstehen, die – so zeigen aktuelle Reaktionen des Marktes – zum Gegenteil dessen führen, was beabsichtigt ist: Die ersten Neubauprojekte von privaten Bestandshaltern werden ganz abgesagt, als Mietwohnungsbau vorgesehene Projekte in Eigentumswohnungen umgewandelt und vor dem Beschluss des Mietendeckels in Häusern bisher gemäßigter Vermieter noch schnell die Mieten erhöht.
In dieser Situation ist das erste Opfer die Baukultur. Dass jetzt, wo doch unbedingt Wohnungen und Büros hermüssen, noch über Städtebau und Architektur nachgedacht werden, geschweige denn durch IBAs, kritische Rekonstruktion etc. Gelerntes angewendet werden könnte, scheint zu viel verlangt zu sein. Schon entstehen von Wohnungsbaugesellschaften scheußlichste Neubau-Platten für „Sozialschwache“ – diesmal mit Dämmschaum drumherum. Schon wird geklotzt, dass einem die Tränen kommen. Schon rufen Entscheider nach seriellem Bauen, die keine Ahnung davon haben, ob und was das bringt.
Wir, die Architekten und Ingenieure dieser und anderer Städte, müssen hier lauter als bisher rufen: Nutzt die Chance des großen Bedarfs! Wiederholt nicht die Fehler der Vergangenheit! Baut gemischte und vielfältige Quartiere! Betreibt Stadtreparatur! Baut funktionierende öffentliche Räume! Gebt dem Druck nicht die Herrschaft über die Planung! Setzt die Interessen der Gesamtheit gegenüber Partikularinteressen durch! Und macht Euch ein Bild von der Zukunft!
Die schöne und lebensfähige Stadt ist kein Bild der Vergangenheit. Natürlich können wir das auch heute. Andere Städte
wie z. B. Kopenhagen machen uns längst vor, wie man Stadt erfolgreich verändern und neu bauen kann. Lasst uns die ideologischen Scheuklappen aller „Ismen“ ablegen und gemeinsam das Richtige tun. Aber wo fangen wir an? Nicht in der Innenstadt, nicht in der Vorstadt oder auf den Äckern ringsherum, sondern in unseren Köpfen.
Don’t crack under pressure!
Ihr
Dipl.-Ing. Tobias Nöfer
Vorsitzender des AIV zu Berlin