Baukultur als zentrale Aufgabe im ländlichen Raum

(in: BAUKULTUR 3_2012, S. 16-17)

Der Begriff „Baukultur" ist zurzeit wieder in aller Munde. Dennoch gibt es weniger denn je eine befriedigende Antwort, was darunter genau zu verstehen sei. Und dies, obschon Friedrich Ostendorf bereits 1922 „das Vorhandensein einer allgemein gültigen Überzeugung in baukünstlerischen Dingen" – wie sie angeblich bis um 1800 vorhanden gewesen sei – ausgerechnet mit diesem Begriff zu fassen versuchte. Somit scheint es so, als sei es gerade die Abwesenheit eines verbindlichen, Halt und Orientierung gebenden Gestaltungskanons, welche der Forderung nach mehr Baukultur in gewissen zeitlichen Abständen Gehör verschafft.

Wie ist es dann aber möglich, die Qualität zeitgenössischer Architektur zu beurteilen bzw. Baukultur überhaupt zu definieren? Weitgehender Konsens besteht heutzutage allenfalls darüber, dass gute Architektur „nachhaltig" sein muss. Ob sie auch regional sein sollte oder sein darf und was dies konkret bedeutet, darüber gehen die Meinungen bereits weit auseinander. Verfehlt wäre es in jedem Fall, „modernes" Design zur Bedingung zu erklären. Unverkennbar ist man jedoch vielfach bei der äußeren Gestaltung immer noch zu einem Gestus der Abgrenzung gegenüber dem Alltäglichen, Normalen, geneigt. Doch erst, wenn Baukultur alltäglich – zur „Norm" – geworden ist, wird sie ihrem Anspruch wirklich gerecht.

Wenn es also an klaren, intersubjektiv gültigen Kriterien zur Definition von Baukultur mangelt und die Einheitlichkeit zugunsten der Heterogenität der Moderne weiter hintenanstehen muss, kann die Lösung nur in einem ganzheitlichen, in gewisser Weise „demokratischen" und ökologischen Baukulturverständnis liegen. Dieses vergewissert sich auch wieder stärker der räumlichen Wirkungen und der Kohärenz von Architektur. Baukultur erweist sich somit erst im Dialog mit dem bebauten und vor allem unbebauten Umfeld, mithin der historisch gewachsenen Kulturlandschaft. Sie besitzt ein stark integratives Moment und ist als Beitrag zu einer interdisziplinär angelegten qualifizierten Umweltgestaltung zu verstehen.

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Im ländlichen Raum hat das Thema Baukultur eine andere Dimension (Foto: Hermann Willers)

Neben der Funktionalität, Alltagstauglichkeit und ökologischen Nachhaltigkeit gilt es daher, auch wieder stärker die Landschaftsästhetik und Regionalität als wesentliche Faktoren für die Lebensqualität – gerade im ländlichen Raum – zu berücksichtigen. Dies meint, weder historisierender Architektur das Wort zu reden noch die industrielle Fertigung zu verurteilen. Architektur ist immer auch Ausdruck ihrer Zeit und sollte sich auf der Höhe derselben bewegen. Dennoch scheint eine stärkere Nutzung nachwachsender Rohstoffe aus regionalen Ressourcen ebenso wie die Beschäftigung örtlicher Hersteller und Handwerksbetriebe sinnvoll – zur Etablierung regionaler Wertschöpfungsketten und damit im Sinne einer regionalen Nachhaltigkeit. Zudem kann eine stärkere Bezugnahme auf die besonderen kulturlandschaftlichen Gegebenheiten dem drohenden weiteren Verlust regionaler Identität entgegenwirken. Dies zu berücksichtigen, kostet nicht zwangsläufig – insbesondere auf lange Sicht gesehen (Stichwort: Lebenszyklusanalyse) - „mehr Geld, sondern Gedanken" (Helmbrecht Boege).

Gerade in den suburbanen und ländlichen Räumen ist die Baukultur in den letzten Jahrzehnten (auch durch Abbau der Bauberatung und die vereinfachte Baugenehmigung) vielerorts „auf den Hund" gekommen. Wurden ländliche Bauaufgaben schon traditionell selten von Architekten wahrgenommen, hat man im Zuge des strukturellen Wandels guter Gestaltung noch weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Und statt einer behutsamen, flächenschonenden Innenentwicklung wurde der raschen Erschließung neuer Wohn- und Gewerbegebiete auf der berühmten „grünen Wiese" der Vorzug gegeben – mit der Folge, dass die Zentren der Dörfer und Kleinstädte weiter an Attraktivität verloren. Doch diese Kurzsichtigkeit und Nachlässigkeit kommt letztlich teuer zu stehen.

Derzeit steht der ländliche Raum vor großen Herausforderungen. Ungeachtet des demographischen Wandels, der hierzulande einen Bevölkerungsrückgang mit allen Konsequenzen für die vorhandene Infrastruktur bezeichnet, wird der Nutzungsdruck auf die Fläche weiter zunehmen. Ein weltweit steigender Bedarf an landwirtschaftlichen Erzeugnissen (für die Ernährung und Energiegewinnung) wird mit darüber entscheiden, wie unsere Kulturlandschaften in Zukunft aussehen werden bzw. ob sie die ihnen eigene Vielfalt werden bewahren können. Den bevorstehenden Wandel verantwortlich zu gestalten und Architekten wie Bauherren dazu zu qualifizieren, ist eine ganz zentrale baukulturelle Aufgabe. Die Deutsche Stiftung Kulturlandschaft hat sich ihr als „Anwalt für den ländlichen Raum" deshalb mit Überzeugung verschrieben.

Stephan A. Lütgert

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