(in: BAUKULTUR 2_2023, S. 3)
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
verehrte Leser und Freunde der Baukultur,
noch vor 20 Jahren hielt man die Wohnungsfrage für gelöst: Vor allem im Osten, aber auch im Westen standen Siedlungen in den Städten und deren Rändern leer, und die Stadtforscher begannen, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie man die schrumpfenden Städte lebenswert halten kann. Freudig konnte man sich dem Abriss vieler Zumutungen des Massenwohnungsbaus widmen, während das Klimaproblem noch im Hinterzimmer des schlechten Gewissens schlummerte.
Mit unserem Anspruch auf immer mehr Quadratmeter pro Person, mit den immer kleiner werdenden Haushalten und vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise und notwendiger Zuwanderung sind wieder andere Themen im Fokus und längst Gemeinplätze: Deutschland braucht mehr Wohnraum, in manchen Gebieten der Republik weniger, in den meisten sehr viel mehr, und das so schnell wie möglich. Dabei darf es nicht zu viel kosten, sollte keine zusätzlichen Flächen versiegeln und muss nachhaltig sein: CO2 sparend oder besser einlagernd, schadstoffarm, gesund und barrierefrei bewohnbar, am besten in umgenutzter oder angepasster Bestandssubstanz, ansonsten so effizient wie möglich. Unsere Fachwelt sucht nach Lösungen für all die Herausforderungen, entwickelt wieder serielles Bauen, verarbeitet mehr Holz, entwirft ortsunabhängige Module für schnelles Bauen, begrünt und versickert, plant und gestaltet all das und erfindet zu guter Letzt Label und Zertifikate, die die postulierten Qualitäten testieren. Und dennoch: Es reicht nicht.
Auf der Suche nach dem umfassend nachhaltigen Bauen sind wir gerade noch am Anfang eines langen Weges. Denn Wohnbaukultur ist immer auch Städtebaukultur – die die „Kommunikation“ der Gebäude untereinander miteinschließt. Dies gilt auf dem Dorf, in der Stadt und in der Metropole. Guter Wohnungsbau ist nicht nur die Optimierung der inneren Funktionen und Qualitäten, er produziert immer auch ein Draußen: Die Außenwand des Innenraums, der nur das Individuum betrifft, ist die Innenwand des Außenraumes, der alle betrifft. Die Wohnung ist Teil des Hauses, dieses ist Teil eines Quartiers, aus deren vieler die Stadt sich zusammensetzt. Das bleibt auch in der Klimakrise so. Als Architekten und Ingenieure ist unsere Aufgabe nicht vornehmlich, technische und ästhetisch hinnehmbare Lösungen für neue Aufgabenstellungen zu bieten, sondern auf derselben Ebene die sozialen und kulturellen Fragen mit zu beantworten. Das bedeutet: Jedes Projekt muss sich fragen lassen und eine Antwort darauf haben, ob es nicht nur für sich, sondern auch für die anderen, das Dorf, die Stadt etwas zu bieten hat. Und das nicht tagesaktuell, sondern für die kommenden Jahrzehnte, besser Jahrhunderte.
Es kann keinen Zweifel daran geben, dass der Flächenfraß von Landschaft durch das Bauen ein Ende haben muss. Das bedeutet Verdichtung der bereits besiedelten und erschlossenen Flächen. Und das geht nur gut mit einer Verfeinerung der Umgangsformen, der Wiederentdeckung einer „kommunikativen“ Architektur. Dass das vom Einzelnen verlangt, vom exzessiven Individualismus ein Stück zugunsten der Gemeinschaft zurückzutreten, ist das große Thema unserer Zeit. Nur auf dieser Grundlage kann die notwendige Verdichtung nicht nur technisch gelöst, sondern umgekehrt zu einer von allen wahrnehmbaren städtebaulichen Qualität entwickelt werden. Wäre es umsetzbar, müsste man einen „Emissionshandel der Verunstaltung“ erfinden.
Noch haben wir große Mühe, die Zielkonflikte motorisierter Individualverkehr versus lebenswerter öffentlicher Raum, individueller Entfaltungsdrang versus Bauflächenbegrenzung, Umsatzsteigerung und Innovationslust der Bauindustrie versus Dauerhaftigkeitserfordernisse glaubwürdig untereinander aufzulösen. Bisher wurden Zielkonflikte – weil es am Ende immer der einfachste Weg ist, zu oft durch Flächenfraß verarbeitet, deren Ergebnis beispielsweise stadtsprengende Einfamilienhausgebiete sind – mit all ihren negativen städtebaulichen und umweltschädlichen Effekten.
Im vorliegenden Heft werden Projekte vorgestellt, die innerhalb dieses Problemfelds als Vorschläge zu verstehen sind und zur Diskussion anregen wollen. Dafür ist allen Beteiligten herzlich zu danken – und Ihnen, wenn Sie in den Diskurs einsteigen!
Tobias Nöfer
Vorsitzender des AIV zu Berlin-Brandenburg