Weltkulturerbe St. Michael in Hildesheim

Eine Kette von Sanierungen
(in: BAUKULTUR 5_2011, S. 14-16)

Gtz_Michaelis_Dach_LanghausSt. Michael in Hildesheim, Langhaus (Foto: Ingenieurbüro Götz & Ilsemann)

Romanische und gotische Zeit
Die Geschichte von St. Michael in Hildesheim ist von Bauschäden bis hin zur zweimaligen Aufgabe der Kirche geprägt. Dem Aufbau durch Bischof Bernward 1010 und der ersten Weihe 1022 folgten Bauschäden im Abstand von Jahrzehnten. Schon 1033 löste ein Blitzschlag eine weitgehende Zerstörung der Kirche aus. 1186 erfolgte die erste große Sanierung: Im Mittelschiff wurden 10 Säulen unter den Arkaden der Obergadenwände ausgetauscht. Die Kapitelle wurden figürlich gestaltet und damit verkürzt, um die Säulenschäfte zu verlängern - vielleicht schon ein erster Vorgriff auf die kommende Gotik, die die Südfassade des Seitenschiffs wesentlich veränderte. Maßwerke wurden eingebrochen, die alle Zeiten - selbst bis zum Wiederaufbau nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg - überstanden. Versuche, die romanische repräsentative Südfassade in ihrer Urfassung wieder entstehen zu lassen, blieben leider nur Gedankenspiele. Modernisierungen und Einbau von Kunstwerken (Engelchorschranken, Kryptaverlängerung, Portalgestaltungen etc.) gingen meist nur einher mit umfangreichen Sanierungen.

Reformationszeit
Die Reformation 1542/43 in Hildesheim vernichtete in St. Michael wertvolles Inventar. Die Engelchorschranke, die Seligpreisungen, weitgehend die Decke, die Darstellung des Jessebaums aus dem 13. Jahrhundert und die bronzene Christussäule aus dem Jahr 1015 konnten bis heute jedoch erhalten werden. Unglückliche Eigentums- und Bauunterhaltungsumstände nach der Reformation verursachten am Bau wieder schwerste Schäden. Einstürze im 17. Jahrhundert vernichteten den West- und Ostturm, den Ostchor sowie die drei östlichen Apsiden und das südwestliche Querhaus. Zuvor war das Kreuzgewölbe des Hohen Chores im Westen eingestürzt, welches bis heute nicht wieder hinzugefügt wurde.

Gtz_Michaelis_Bogen_AuenfassadeSt. Michael in Hildesheim: Freigelegter Ottonischer Bogen der polychromen Südfassade
(Foto: Ingenieurbüro Götz & Ilsemann)   

19. Jahrhundert
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts brach man, durch Baufälligkeit gezwungen, das Nordseitenschiff ab. Alle Dächer waren stark beschädigt. Die Säkularisierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestimmte eine tiefe Zäsur für St. Michael, dem Bauwerk, das 400 Jahre Sakralarchitektur mit einer nördlich der Alpen einmaligen polychrom gestalteten Fassade widerspiegelt. Die Nutzung als Aufenthalt für geistig kranke Menschen wurde von einer Seilerei und Tischlerei abgelöst. Für Heu- und Strohlager wurde der Raum kurzzeitig genutzt, um ihn dann 1842 gänzlich aufzugeben. Die Kirche sollte als Steinbruch genutzt und abgetragen werden. Einflussreiche Personen, u.a. Stadtrat Roemer, sorgten verantwortungsvoll für die Rettung. Sie erkannten die große Bedeutung von St. Michael für die Bau- und Kunstgeschichte.
C. W. Hase aus Hannover erhielt den Auftrag zur umfangreichen Wiederherstellung. Das nördliche Seitenschiff entstand neu. Das Südseitenschiff erhielt eine neue Eindeckung mit herabgesetzter Traufe und hohem Pultfirst. 1857 war die dreischiffige Kirche als nutzbares Gotteshaus wieder gegeben, allerdings ohne Südwestquerhaus - also kein Doppelkreuzgrundriss nach Bernwardinischer Fassung.
   
20. Jahrhundert
50 Jahre später zeigten sich umfangreiche Schäden. Prof. Mohrmann bekam den Auftrag einer neuerlichen Wiederherstellung. Er rekonstruierte 1907-1910 das Südwestquerhaus. Dafür entfernte er die Bernwardinischen Fundamente, fand dabei den Grundstein von 1010 (MX). Das Querhaus gründete Mohrmann bis 3,50 m Tiefe auf den Posidonienschiefer des tektonisch gefalteten Grundgebirges. Er war der erste, der die Ursache der permanenten Bauschäden im Baugrund vermutete. Der anstehende, eiszeitlich veränderte Mergel über dem Posidonienschiefer mit flächenhaft sehr variierenden Mächtigkeiten zeigt sich durch eindringendes Schichtenwasser sehr instabil. Verändernde plastische Zustandsformen, durch Schrumpfen bei Austrocknung und Quellen bei steigender Feuchtigkeit, sind die Ursachen der fast 1000 Jahre alten Bauschadensgeschichte.
Am 22.3.1945 schien das Ende der Kirche gegeben. Die Zerstörung durch Bomben ließ eine verheerende Ruine zurück. Und wieder waren es kluge, mutige Menschen, die den Wert von St. Michael erkannten. Der Pastor, Superintendent K. Degener, als Organisator, W. Blaich als Architekt sowie H. Beseler als Kunsthistoriker und Denkmalpfleger erkannten die große Chance, die diese Katastrophe dennoch bot. Bernwards Vorstellungen vom einmaligen Kirchenbauwerk St. Michael in einer Rekonstruktion des griechischen Doppelkreuzes mit den 4 Treppentürmen und beiden Vierungstürmen sowie den drei Apsiden mit Ostchor zu realisieren, diese Chance wurde genutzt.
1985 wurde die Kirche in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen. Ende der 1980er Jahre zeigten sich erneut bedenkliche Schäden. Rissbildungen in den Obergaden öffneten sich bis zu 50 mm. Zur Jahrtausendwende 2000 fiel die Entscheidung zu einer neuerlichen großen Sanierung.

21. Jahrhundert
Im Zuge der Sanierungen nach 2005 ging es neben einer neuen Warmumluftheizung, einem neuen Sandsteinfußboden und der farbigen Neufassung des Innenraums vorrangig um nachhaltige Standsicherheit und funktionale Verbesserungen an und in der Kirche.

Gravitationsentwässerung Das Schichtenwasser sorgte oftmals für wassergefüllte Fundamentgräben. Die Kapillarität der Fundamentstruktur förderte dieses Wasser mit den anstehenden Chloriden und Sulfaten in das aufgehende Mauerwerk mit Pfeilern und Säulen. Zum anderen veränderte der wechselnde Wasserstand in den Fundamentgräben die Plastizität der Fundamentfuge zum Mergel durch Schrumpfen und Quellen des Erdreichs und damit die wechselnde Lastaufnahmefähigkeit. Aus diesem Wechsel resultierten über Jahrhunderte andauernde Nachsetzungen mit den oben beschriebenen katastrophalen Folgen. Mit der eigens für die Michaeliskirche entwickelten Gravitationsentwässerung werden die Fundamentgräben in einem weitgehend konstanten Zustand belassen. Die Schwerkraft lässt das Wasser abfließen ohne Schlufffeinstteile. Dies unterscheidet sich deutlich von einer Drainage. Pegelbrunnen sind als Indikatoren in und außerhalb der Kirche verteilt abgeteuft.

Messsystem Durch unkontrollierte Nachsetzungen kam es über Jahrhunderte zu Schiefstellungen der Bauteile. 188 Messpunkte/ -prismen ermöglichen mit geringem Aufwand ein verlässliches Monitoring der maßlichen Entwicklung - ein Ergebnis der Zusammenarbeit mit der Bauhausuniversität Weimar.

Fußbodenaufbau Ein druckfester Unterbau mit geringem Kapillarvermögen und hoher Diffusionsoffenheit aus Liapor mit Kalktrass in eigens für St. Michael entwickeltem und laborgeprüftem Mischungsverhältnis verändert das Klima in der Kirche sehr positiv für Orgel und Decke.

Klimamonitoring Daten von Temperatur und Luftfeuchte in der Kirche und ihrem Dachraum sowie in der freien Natur werden erfasst und grafisch aufgetragen bei gleichzeitiger Erfassung besonderer Veranstaltungen mit auffallend größeren Menschenansammlungen. Hieraus sind Entscheidungen für die Vorgehensweise zum Wohle der Bausubstanz möglich.

Säulen- und Kapitellsicherung 4 Säulenschäfte aus dem 11. und 12. Jahrhundert zeigen deutlich sedimentäre, schräg verlaufende Äderung. Die teilweise schon aus dem 19. Jahrhundert gegebenen Eisenbänder haben Schäden am Sandstein durch Spitzenkontakte hervorgerufen. Zur Sicherung der Standsicherheit gab es die drei Alternativen Austausch, Kunstharzverpressung und Bänderung. Zur Ertüchtigung der Bauteile wurden schließlich CFK-Sheets aus jeweils zwei Lagen angebracht.

Gtz_Michaelis_SeitenschiffSt. Michael in Hildesheim: Nördliches Seitenschiff/ Westliches Querhaus, Säule mit CFK-Banderolensicherung (Foto: Ingenieurbüro Götz & Ilsemann)

Mobiliar Das feste Bankgestühl aus dem 19. Jahrhundert wurde gegen eine lose Bestuhlung gewechselt, wodurch ein mittelalterlicher Raumeindruck vermittelt wird. Denn zur Erbauungszeit gab es keine Sitzgelegenheit bis auf geringfügiges Mönchsgestühl.

Aufzüge Mangelnder Stauraum ließ in St. Michael „Kram-ecken“ entstehen. Ein bodengleicher Aufzug in den Keller sowie ein Aufzug mit Zugang in die Westvierung brachte eine wirksame funktionale Änderung. Hinzu kommt, dass dadurch der Raum mittelalterlich geräumt erlebbar ist.
Die Michaliskirche in Hildesheim hat im Zuge der Sanierung 2005-2012 innovative Neuerungen erfahren, um die rhythmische Kette der Schadensentwicklung umfassend zu verändern. Eine umfangreiche Publikation ist in Vorbereitung.

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