Projekt VIER in Hannover
(in: BAUKULTUR 2_2016, S. 12-13)
Das hannoversche Familienunternehmen Gundlach setzte mit dem VIER ein innovatives Leuchtturmprojekt der vielfältigen Gestaltung um. Mit einem Marktforschungsinstitut wurde die Leitidee der „Wohnvielfalt“ entwickelt. Ergebnis ist eine außerordentlich hohe Individualität der Wohnungen – keine ist wie die andere. Das Projekt realisiert auch einen hohen Nachhaltigkeitsanspruch als Teil der Gundlach Unternehmenskultur. Dieser wird mit einem DGNB-Zertifikat nachgewiesen.
Projekt VIER in Hannover: 4 Architekturbüros haben 4 Wohnstile realisiert
Weg zur Projektidee
Vor Projektbeginn wurde das Ziel festgelegt, auf dem zentral in Hannover gelegenen, rund 10.000 m² großen Areal ein zukunftsweisendes Projekt zu realisieren. Ausgangspunkt der planerischen Überlegungen war eine bedürfnisorientierte Leitidee. Mit dem hannoverschen imug Institut für Markt-Umwelt-Gesellschaft e.V. wurden Lebens- und Konsumstile, Wohntrends und Megatrends untersucht und bewertet. Aus der Verdichtung der Erkenntnisse, u. a. in Diskussionen mit
Künstlern, Werbeagenturen, Architekten, Nachbarn und möglichen Bewohnern, ergaben sich die 4 Wohnstile „Komfortabel“, „Nachhaltig“, „Entspannt“ und „Extravagant“ für unterschiedliche Zielgruppen.
Internationaler Architektenwettbewerb
Auf Basis dieser Leitidee wurde ein internationaler, zweistufiger Architektenwettbewerb ausgelobt. Für eine möglichst hohe Entwurfsvielfalt wurden 24 Architekturbüros aus dem In- und Ausland eingeladen. Stadt und Politik wurden intensiv in das Verfahren eingebunden. Die Architekten sollten nicht nur einen nachhaltigen Städtebau und eine anspruchsvolle Architektur erarbeiten, sondern auch individuelle neue Lösungen für die formulierten Wohnstile finden. In der ersten Wettbewerbsstufe wurde mit dem Entwurf des Büros BKSP aus Hannover das städtebauliche Konzept prämiert. In der zweiten Stufe wurden 4 Architekten für die Umsetzung der Gebäude durch das Preisgericht ausgewählt.
Vielfalt in der Einheit
Das städtebauliche Konzept der Architekten BKSP stellt eine aufgelöste Blockrandbebauung mit insgesamt 8 Gebäuden auf einer verbindenden Tiefgarage und einem gemeinschaftlichen Innenhof dar. Bei der Entwicklung der Einzelgebäude interpretierte jedes Architekturbüro in der zweiten Stufe die 4 Wohnstile hinsichtlich Ausstattung, Materialwahl und Grundrissgestaltung ganz individuell. Auch in der Fassadengestaltung formulierte jedes Büro seine eigene Architekturauffassung. Zusammenhaltende Komponenten wie einheitliche Fassadenmaterialen, z. B. Klinker im gleichen Format eines Herstellers, wiederholende Gebäudeabmessungen und abgestimmte Höhenbezüge, wurden für die zweite Stufe als „Klammer“ festgelegt. Auch die einheitliche Gestaltung des Innenhofes dient als zusammenhaltendes Glied. Amorphe Bepflanzungsinseln aus Rhododendronskulpturen mit Ruhe- und Spielflächen erfüllen unterschiedliche Bedürfnisse nach Öffentlichkeit und Privatheit. Das neue Quartier stellt sich als moderne Interpretation eines Gründerzeitblocks dar. Dabei dienen Gründerzeithäuser als Referenz für eine hohe Nachhaltigkeit, eines der Leitmotive im VIER.
Die großzügigen Foyers sind individuell gestaltet
Nachhaltigkeit
Für die Nachhaltigkeit von Gebäuden ist neben der Energieeffizienz die räumliche und gestalterische Qualität in Städtebau und Architektur von entscheidender Bedeutung. Die Nachnutzung einer Industriebrache in zentraler Lage mit einer urban gemischten Nutzung in hoher baulicher Dichte ist die nachhaltigste Form des Umgangs mit Flächen in der Stadt. Die im städtebaulichen Konzept enthaltene Verflechtung mit benachbarten Quartieren mit kurzen Wegen und großen Freiraumqualitäten integriert das neue Stadtquartier. Um den eher abstrakten Begriff der Nachhaltigkeit greifbar zu machen, wurde eines der 8 Gebäude als „Green Building“ mit einer DGNB-Zertifizierung ausgeführt. Mit definierten Vorgaben, z. B. hinsichtlich Bauprodukten, Flexibilität und Rückbaubarkeit, wurden der Bauprozess und die Qualität unter den vorgegebenen Kriterien der DGNB nachvollziehbar und messbar. Als bundesweit erstes Wohngebäude erhielt das Haus Günther-Wagner-Allee 45 (B1) das Vorzertifikat in Gold. Mit der Fertigstellung im Dezember 2015 ist das DGNB-Zertifikat im Jahr 2016 nun in greifbarer Nähe.
Gebäudetechnik und Energieeffizienz
Im Sinne der Nachhaltigkeit steht als ein Baustein die Gebäudetechnik, bei der zum einen die Energieeffizienz, zum anderen aber auch die Betriebs- und Unterhaltswirtschaftlichkeit in Form einer Ökobilanz im Fokus steht. So wurden z. B. im Planungsprozess zum Haus B1 mehrere bauliche und technische Konzepte unter Betrachtung des Energieverbrauchs bei gleichzeitigem Abgleich der Investitions-, Unterhalts- und Wartungskosten entwickelt und gegenübergestellt. Bei der Variantenbetrachtung stellte sich heraus, dass durch die im gesamten Projekt einzusetzende Fernwärmeversorgung mit einem Primärenergiefaktor von 0,19 eine für die Energieeffizienz der Gebäude hervorragende Voraussetzung bereits gegeben war. Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsbetrachtung über einen Zeitraum von 50 Jahren erwiesen sich für das Haus B1 zusätzlich eine dezentrale Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung sowie eine Photovoltaik- und Solaranlage als effizient und rentabel. Der gewonnene Strom wird dabei für alle gemeinschaftlichen Bereiche im Haus genutzt. Überschüsse werden in das öffentliche Netz eingespeist. Die Solaranlage unterstützt die Warmwasserbereitstellung.
Eine andere grundsätzliche Voraussetzung für ein energieeffizientes Gebäude stellt die Gebäudehülle dar. Das Haus B1 ist, wie alle anderen Gebäude im VIER, hochgedämmt und mit massiven wärmespeichernden Stahlbetonwänden und -decken ausgestattet. In Kombination mit der genannten haustechnischen Ausstattung besitzt das Gebäude den Standard eines KfW-Effizienzhauses 70.
Das Projekt zeichnet sich durch viele Besonderheiten, wie z. B. einem komfortablen Müllkonzept mit Abwurfschächten, aus. Mit einem Transponderclip können alle für die Bewohner relevanten Türen inkl. der persönlichen Briefkästen und des Tiefgaragentores geöffnet werden. Die großzügigen Foyers sind ansprechend individuell gestaltet. In der Tiefgarage finden sich Anschlüsse für Elektrofahrzeuge.
Vielfalt und Kosten
Die Wohnungen bilden die Vielfalt in ihrer Größe von 40 bis über 200 m², zur Miete oder zum Kauf mit Preisen zwischen unter 3.000 bis über 5.000 Euro und Mieten von unter 9 bis über 15 Euro pro m² ab. Diese Kaufpreise und Mieten verdeutlichen, dass Vielfalt und Individualität und der damit verbundene Aufwand in Planung, Koordination und Ausführung nicht gleichzeitig mit sehr kostengünstigem Bauen umsetzbar sind. Die Vielfalt zeigt sich in Materialien über die Grundrissgestaltung, von offenen Bädern über Lehmputzwände bis zur Einliegerwohnung für die Schwiegermutter oder das Büro. Bei Betrachtung der Mieter und Käufer ergibt sich kurz vor Abschluss des Projektes ein buntes Bild, welches den anvisierten Ansatz belegt. Familien mit Kindern wohnen mit Rentnern, Studenten bis zur Piloten-WG in einem Quartier zusammen und bilden ein „Unikat der Vielfalt“.