BAUKULTUR 4_2021: Editorial

(in: BAUKULTUR 4_2021, S. 3)

Liebe Leserinnen und Leser,
verehrte Freunde der Baukultur,

ohne Boden keine Stadt, kein Land, kein Lebensraum – auch kein Fliegen und kein Schwimmen. Ohne Boden sind wir nichts, und doch kümmern wir uns nicht richtig um diese Daseinsgrundlage, soweit es über den Horizont des von uns beanspruchten Bodens hinausgeht. Dies möchte das Bündnis Bodenwende ändern – völlig zu Recht! Das Bündnis Bodenwende wurde auf Anregung der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung im Jahr 2020 geschaffen. Seine Kernbotschaft lautet: „Der Boden, seine Verfügbarkeit und Nutzung spielen eine zentrale Rolle bei den großen Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte: sozialer Zusammenhalt, angemessene Wohnraumversorgung, gleichwertige Lebensbedingungen in Stadt und Land, gerechtere Vermögensverteilung, wirksamer Klimaschutz und Klimaanpassung, Erhaltung der Biodiversität, sichere und nachhaltige Nahrungsmittelproduktion, Bewältigung von Pandemien.“ Diese Liste könnte noch verlängert werden: Abwehr weiterer Pandemien, Ausbau nachhaltiger Infrastruktur, Rückbau der autogerechten Stadt und Landschaft, Neugestaltung von Straßen und Plätzen usw.

Warum ist dabei der Boden so wichtig? Er ist die Voraussetzung jeder nachhaltigen Politik. Die europäische Stadt war seit Beginn ihrer Existenz mit der entscheidenden Frage konfrontiert: Wie soll das Eigentum am Boden zwischen der öffentlichen Hand und den einzelnen Bürgern verteilt werden, und welche Auflagen sind für das private Eigentum erforderlich? Dazu kam die Frage, wie denn das private Eigentum überhaupt ausgestaltet werden und was konkret unter öffentlicher Hand verstanden werden soll. Seit dem späten 19. Jahrhundert wurden in Deutschland grundsätzlich drei Lösungen gefunden: der privatwirtschaftliche Städtebau, der kommunalwirtschaftliche Städtebau und der staatswirtschaftliche Städtebau.

Vor dem Ersten Weltkrieg herrschte der privatwirtschaftliche Städtebau, der der Privatinitiative aber keineswegs völlige Freiheit ließ, sondern etwa hinsichtlich der Breite von Straßen, der Höhe von Gebäuden und der Verdichtung von Baublöcken Grenzen setzte, wenn vielfach auch unzureichende. Diese unzureichenden Grenzen, die wiederum den Interessenlagen derer entsprach, die in den Kommunen und dem Zentralstaat das Sagen hatten, führte zu einer ersten großen Protestbewegung, die sich unter dem Label einer (städtischen) Bodenreform versammelte. In dieser Zeit erreichte die Debatte um die städtische Bodenrente ein außerordentlich hohes Niveau. Nach dem Ersten Weltkrieg war es vorbei mit dem privatwirtschaftlichen Städtebau, nun kam die große Zeit der Kommunen, des kommunalwirtschaftlichen Städtebaus. Dieser betraf den Wohnungsbau und die Wohnungsbestandspolitik, aber auch große Teile der städtischen Infrastruktur: Verkehr, Energieversorgung, Krankenwesen, Messewesen, Wasserver- und entsorgung usw. Voraussetzung dafür war eine aktive Bodenvorratspolitik. Das bedeutete auf der anderen Seite auch: Für den privaten Sektor gab es ebenfalls Aktionsfelder, etwa bei der Warenversorgung und vor allem bei der Industrieproduktion. Diese kommunale Blütezeit brach mit der Weltwirtschaftskrise zusammen und wurde 1933 dann vollständig beseitigt. Nun setzte sich der staatswirtschaftliche Städtebau durch, der die Ausschaltung der kommunalen Autonomie und den Aufbau zentralstaatlicher Baubehörden voraussetzte. Was oft vergessen wird: Nicht der kommunalwirtschaftliche, sondern erst der staatswirtschaftliche Städtebau nahm größere Teile des privaten Eigentums in Besitz – durch Enteignung unterschiedlichster Art. Dies galt bekanntlich auch für den Städtebau der DDR.

Bodenpolitik ist keine isolierte Politik, sie setzt Akteure und Ziele voraus. Sie erhält ihren Sinn erst durch ein gesellschaftspolitisch begründetes städtebauliches Programm. Heute stellt sich erneut die Frage: Welcher Typus des Städtebaus ist angesichts der jetzigen und künftig absehbaren Herausforderungen angemessen? Eigentlich gibt es nur eine Antwort: ein neuer, weiterentwickelter kommunalwirtschaftlicher Städtebau. Mit einer aktiven Bodenvorratspolitik, einer klaren Trennung der Aufgabenfelder der öffentlichen Hand und der Privatwirtschaft und einer eindeutigen, verständlichen, der Nachhaltigkeit einschließlich des sozialen Zusammenhalts verpflichteten Rahmensetzung für die Privatinitiative. Dazu gehören u.a. eine Abschöpfung leistungsloser Bodenpreissteigerungen, eine Ausschaltung von Share Deals, eine erleichterte Anwendung des Erbbaurechts, eine maximale Transparenz des – kommunal gesteuerten – Bodenmarktes, eine Orientierung auf Umbau statt Abriss, eine aktive Begrenzung des Flächenverbrauchs. Mit einer Bodenwende kann die europäische Stadt in eine nachhaltige Zukunft geführt werden.

Ihr
Prof. Dr. Harald Bodenschatz
Stadtplaner und Sozialwissenschaftler

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