Partizipationskultur

Interview mit Prof. Dr. Volkwin Marg
(in: BAUKULTUR 2_2011, S. 10-11)

Die Rebellion aus der bürgerlichen Mitte um das Projekt „Stuttgart 21“ hat auch für einen politischen Klimawandel gesorgt. „Stuttgart 21“ ist nur eines von vielen Projekten in der Stadtentwicklung, gegen das Bürger protestieren. Bei großen Bauprojekten sind nicht nur politische Entscheidungsträger beteiligt. Ohne Architekten und Ingenieure gäbe es im Baubereich keine Veränderungen, Verbesserungen und Innovationen. Vor dem Hintergrund der Partizipationskultur haben wir Prof. Dr. Volkwin Marg - DAI Preisträger für Baukultur 2006 - zur Entwicklung und Zukunft seiner Arbeit befragt.

Ihr persönliches Empfinden zur Entwicklung der Bürgerunzufriedenheit gegenüber dem Projekt „Stuttgart 21“?

Mein persönliches Empfinden halte ich für politisch belanglos. Es gibt schon viel zu viel Gefühlsäußerungen. Mir geht es um weniger Missverständnisse bei den Fakten, die seit über einem Dutzend Jahren bekannt sind. Die Unzufriedenheit vieler Bürger vor Ort betrifft ein Jahrhundertprojekt, bei dem es ursprünglich nur um Gewinner gehen sollte:

  • Der europäische Personenverkehr auf der Schiene von Paris bis Budapest wird überall beschleunigt und modernisiert und Stuttgart mittendrin hat davon als Ballungsraum besonderen Nutzen.
  • Die neue Tunneltrasse sollte Stuttgart samt Park und Bahnhof ungestört unterfahren und dadurch die riesigen Gleisflächen vor dem Sackbahnhof für die städtebauliche Entwicklung der hier zweigeteilten Stadt für das 21. Jahrhundert freigeben. Daher der Name „Stuttgart 21“.

Unsere Architektensozietät von Gerkan Marg und Partner hatte im Rahmen der Bundesbahn-Aktion „Renaissance der Bahnhöfe“ das Projekt „Stuttgart 21“ entwickelt und bereits 1994 im Nordflügel des Stuttgarter Bahnhofs in einer großen Ausstellung öffentlich präsentiert. Dort war der Testentwurf zu sehen, der zeigte, dass das Baudenkmal einschließlich seiner Flügelbauten selbstverständlich erhalten werden konnte und sollte.

Wenn sich heute der Zorn der Bürger am provokanten Abriss eben dieses Bahnhofsflügels entzündet, sehe ich darin den Ärger über eine um viele Jahre verspätete öffentliche Wahrnehmung einer falschen Juryentscheidung beim Bahnhofswettbewerb von 1997. Entgegen unserem ersten Testentwurf und vielen Wettbewerbsentwürfen, die das Baudenkmal und den Park schonten, hatte die Jury in ignoranter Willkür ausgerechnet einen solchen Entwurf ausgewählt und zum Bau empfohlen, der das demonstrativ nicht tat. Keiner kann sich damit herausreden, dass das Europaprojekt „Stuttgart 21“ oder der falsch ausgewählte Bahnhofsentwurf nicht öffentlich kommuniziert worden seien.

Die reichlich späte Erkenntnis des Fehlers der Jury erfüllt nach einem längst abgeschlossenen Planfeststellungsverfahren die Bürger mit Zorn. Sie richten ihren verständlichen Unmut aber nicht gegen sich selbst, sondern gegen ihre gewählten politischen Repräsentanten. Und das sind nicht mehr die umjubelten Verkünder von „Stuttgart 21“ (Bürgermeister Rommel, Ministerpräsident Teufel, Verkehrsminister Wissmann und Bundesbahnchef Dürr), sondern schon die 2. nachgefolgte Amtsgeneration, die das durch alle Planfeststellungsinstanzen gebrachte Projekt geerbt hat und austragen will.

Die diffuse Wut und die Verspätung der Bürgerpartizipation hat auch eine diffuse Verweigerungshaltung in allem und jedem zur Folge. Anstatt sich auf eine noch nicht zu späte Korrektur der falschen Bahnhofsplanung zu konzentrieren und das Baudenkmal wieder zu komplettieren, droht die von Wahlspekulanten und Medien angeheizte öffentliche Empörung, das Infrastrukturprojekt „Stuttgart 21“ sprichwörtlich wie das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wut macht bekanntlich blind.

Sie bauen für Bürger – nahmen und nehmen Sie die Wünsche der Bürger bei Ihren Planungen auf?

Hinter jeder Bauherrschaft stehen Bürger und hinter jedem Bauausschuss und jeder Baugenehmigung mit Beteiligung der Betroffenen auch. Demokratie setzt bürgerliche Partizipationskultur voraus.

Deutschland hat die weltweit perfekteste Partizipations-Gesetzgebung beim Planen und Bauen, mit Planfestsetzungsprozeduren, Bebauungsplanverfahren und Beteiligung Betroffener bei Baugenehmigungen. Dessen ungeachtet arbeite ich als Architekt des Bundes Deutscher Architekten (BDA) selbstverständlich gemäß dessen Satzung, wonach Architektur nicht nur vom Verfasser oder gegenüber dem Auftraggeber zu verantworten ist, sondern auch vor der Gesellschaft. Natürlich nehme ich auf Bürgerwünsche Rücksicht, ich brauche sie gar nicht zu suchen, sie werden mir per Gesetz sogar aufgegeben.

Werden die Bürger künftig intensiver bei der Planung eines Großprojektes mit am „Zeichentisch“ stehen?

Um Himmels Willen, nicht auch das noch. Das wäre unaufrichtiger Populismus! Einem Chirurgen würde man doch auch nicht zumuten, die Bürger an den Operationstisch zu holen. Bei der Bestimmung des Programms bestimmen die Bürger mit, bei der Planfeststellung ebenfalls, und bei der Baugenehmigung als Betroffene auch. Das reicht, wird aber leider zu wenig oder oft zu spät wahrgenommen. Bürger nehmen entgegen dem aktuellen Anschein leider häufig Wahlverpflichtungen nicht wahr, und auch nicht die fristgerechte Mitwirkung an Planungsprozessen, d.h. im Klartext: Sie sind zu wenig politisch aktiv.

Wir Architekten sind Spezialisten für das Ganze und handeln wie Komponisten, die zugleich als Dirigenten das Orchester für eine bereits abgestimmte Partitur zusammenzuhalten haben. Wenn Gruppen, Kommissionen oder sich widersprechende Haufen am Pult rumfuchtelten, käme gar nichts oder eine wüste Kakophonie heraus.

Macht die Bürger-Partizipation die Kreativität des Architekten zunichte oder ist sie eine Herausforderung?

Sie ist eine selbstverständliche Herausforderung. Die Kreativität des Architekten besteht darin, in den Ketten der Sachzwänge, Zielkonflikte, Zwecke und Mitsprachen zu tanzen. Architektur ist keine freie Kunst wie die Musik, die Bildnerei, die Poesie, die der Künstler nur vor sich selbst zu verantworten braucht, sondern eine gebundene Auftragskunst, zu verantworten vor dem Auftraggeber, den funktionalen, juristischen, ökonomischen und technischen Auflagen und schließlich auch vor der Bürgergesellschaft.

Wenn man schon in Ketten tanzen muss, und das im öffentlichen Interesse mit Anmut für das soziale Wohlbefinden, dann sollte man freilich auch atmen dürfen. Leider wird uns manchmal dabei bedrängend die Luft abgeschnürt.

Der Politiker ist offenbar ein schlechter Verkäufer von Bauprojekten. Müssten mehr Architekten Politiker werden oder haben Sie eine andere Lösung?

Die besten Verkäufer sind bekanntlich die Heiratsschwindler, allerdings meist mit zeitlich begrenztem Ziel. Die durch die Wahlperioden begrenzten Fristen verführen manche Politiker zur populistischen Schwindelei, genauso, wie die Kurzfristrenditen zu Gier, Finanzbetrug und Plünderungen zu Lasten der Zukunft verführen.

Den Bürger bei der Darstellung z.B. auch von Bauprojekten für dumm zu verkaufen, indem man unvermeidliche Lasten oder Nachteile erst unterschlägt, um sie später häppchenweise einzutrichtern, kränkt die Bürger, die sich für mündig halten. Die Folge ist Politikverdrossenheit und Geringschätzung der als manipulierende Kaste empfundenen Politprofis. Ich fordere seit jeher immer wieder mehr politisches Engagement von Architekten, freilich nur, wenn es nicht um eigennützige Auftragsbeschaffung geht.

Dessen ungeachtet, habe ich mich persönlich stets politisch und öffentlich engagiert. Das ist mit meinem Buch „Architektur ist - natürlich nicht unpolitisch“ dokumentiert.

Übrigens: Politik kommt von Polis. Polis bedeutet „Stadt“-(Staat) und diesen soll jeder Architekt in Verantwortung vor der Gesellschaft mitinszenieren. Wie könnte er da unpolitisch sein?

Gibt es ein Projekt, dessen Umsetzung Sie abgelehnt haben, weil Sie mit dem Widerstand der Bürger gerechnet haben?

Abgelehnt oder aufgekündigt habe ich schon viele Projekte, aber nicht aus Furcht vor Bürgerwiderstand, sondern im Widerspruch zu den Bauherrn, deren Absichten ich entweder wegen baukünstlerischer Zumutungen oder im gesellschaftlichen Interesse abweisen musste. Solche Verweigerung habe ich geleistet, weil ich meinte, selbst widerstehen zu müssen, ohne einen Bürgerwiderstand in eigener Sache vorzuschieben.

In architektonischen Fragen sind die Bürger häufig von Trend verstärkenden Medien beeinflusst und in ihrer unabhängigen Meinungsbildung eher behindert. In modischen Trends schwimmend, hat die Masse nur beschränkte gestalterische Urteilskraft.

In sozialen Fragen städtischer Baukultur ist die Empfindlichkeit des sogenannten gesunden Menschenverständnisses durchaus urteilsfähiger. Freilich wird der meist erst bei der späten Wahrnehmung der Symptome wach, während die frühzeitigen Ursachen übersehen werden. Leider ist das entgegen allen Hoffnungen bei den Medien nicht viel anders.

Dennoch habe ich seit Jahrzehnten in Aktionen, Zeitungsartikeln, Manifesten, Fernsehauftritten oder offenen Briefen den Bürgerwiderstand provozieren oder stärken wollen, oft mit Erfolg, aber unterschiedlichen Ergebnissen, z.B.

in den 1970er und 1980er Jahren

  • für die Rettung des städtebaulichen Kunstwerks Hamburg
  • gegen den Bau von Atomschutzbunkern für atomare Kriege
  • 2008 gegen den Bau der Waldschlösschenbrücke zur Erhaltung des Kulturerbes Elbaue Dresden
  • heute gegen die Konzeptlosigkeit bei der Erhaltung des Baudenkmals Flughafen Berlin Tempelhof

 Ihr Kommentar zum Abschluss

Die Partizipationskultur unserer Demokratie ist zwar teuer und zeitraubend, aber sie wird solange nicht zu einem lästigen Luxus, wie sie der demokratischen Selbstkorrektur dient. Das gilt auch für „Stuttgart 21“.

Das Interview führte Marion Uhrig-Lammersen

 

 

 

 

 

 

 

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