DAI Literaturpreis 2015

Laudatio auf Gerhard Steidl
von Oliver Jahn, Chefredakteur AD Architectural Digest
(gekürzte Version in: BAUKULTUR 1_2016, S. 11-13)

(hier: ungekürzte Version)

Sehr geehrter Herr Professor Baumgart,
sehr geehrter Herr Professor Pfeiffer,
lieber, verehrter Gerhard Steidl,

als Arno Schmidt im Jahr 1973 der Frankfurter Goethepreis verliehen werden sollte, konnte man nur rätseln. Ob der zurückgezogen, ja fast versteckt in der Lüneburger Heide lebende Schriftsteller, der mit seinen hochartifiziellen Roman-Gebirgen wie „Zettel´s Traum“ bei seinen Lesern für ebenso viele Frage- wie Ausrufezeichen gesorgt hatte, überhaupt in der Paulskirche erscheinen würde. Und in der Tat betrat an jenem 28. August des Jahres nur Schmidts resolute Ehefrau Alice das Podium, um an seiner Statt die Dankesrede zu verlesen. Preisverleihungen, überhaupt öffentliche Auftritte waren dem widerspenstigen Dichter, der in seinen Romanen und Essays immer auch aufs scharfzüngigste mit den herrschenden politischen Verhältnissen, mit der Bigotterie seiner Zeit ins Gericht gegangen war, ein Greuel. Ausserdem hätte ihn die Reise nach Frankfurt viel zu viel Arbeitszeit gekostet. Denn neben allem Genius war es für Arno Schmidt aus dem kleinen niedersächsischen Fleckchen Bargfeld bei Celle zeitlebens das allergrösste Bedürfnis, so viel Zeit wie möglich in das zu investieren, was ihm das wichtigste war: die riesige Fülle seiner literarischen Phantasien zu Papier zu bringen.
„Sei es noch so unzeitgemäss und unpopulär“, heisst es in seiner Rede, „aber ich weiss, als einzige Panacee, gegen Alles, immer nur ´Die Arbeit´ zu nennen, und was speziell das anbelangt, ist unser ganzes Volk, an der Spitze die Jugend, mit nichten überarbeitet, vielmehr unterarbeitet : ich kann das Geschwafel von der 40-Stunden-Woche einfach nicht mehr hören : MEINE Woche hat immer 100 Stunden gehabt.“

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Prof. Christian Baumgart überreicht den DAI Literaturpreis 2015 an den Göttinger Verleger Gerhard Steidl (Foto: Regine Rabanus)

Meine Damen und Herren, ich möchte mit diesem kleinen Seitenschwenk auf das beherzt ausgestellte Arbeitspensum eines der vielleicht grössten Dichters des 20. Jahrhunderts, der lieber zuhause sass und schrieb als einen hochdotierten und renommierten Preis entgegen zu nehmen, ganz sicher keine vorschnellen Parallelen ziehen zu unserem heutigen Preisträger, Gerhard Steidl. Wie Gerhard Steidl über die Entgegennahme von Preisen denkt, entzieht sich natürlich meiner Kenntnis – ich bin jedoch sicher, es ist ihm eine grosse Ehre und er freut sich sehr. Und: Er ist hier! Auch wenn vermutlich der einzige Ort auf der Welt, an dem er heute Abend noch lieber weilte, die mächtige Roland 700 wäre, seine Druckmaschine, die Tag und Nacht im Herzen seines Verlagshauses stampft. Auch er arbeitet einfach gern.

Wenn ihm der Verband Deutscher Architekten- und Ingenieurvereine den DAI Literaturpreis 2015 verleiht, geschieht dies in grösster Anerkennung für die nun – wenn ich richtig gerechnet habe – 47jährige Arbeit des Göttinger Verlegers. Und über diese möchte ich Ihnen heute ein klein wenig erzählen.

Ich weiss nicht, wie vertraut Gerhard Steidl mit den Werken des niedersächischen Wortweltenerbauers Schmidt tatsächlich ist – ich bin jedoch fast sicher, der erklärte Vielleser und Vielarbeiter Steidl, der keinen Fernseher besitzt und in einem Haus wohnt, in dem sogar die Küche von Büchern überwuchert ist, kennt sie bestens. Ohne eine allzu künstliche Nähe zwischen den beiden Niedersachsen – der eine zugezogen, der andere hier geboren – herstellen zu wollen, ist der Vergleich doch nicht zufällig gewählt. Auch wenn er sich mehr den spielerischen Assoziationen des Laudators verdankt als tatsächlich aufzudeckender geistiger Verwandschaft, um das hier ausdrücklich zu betonen. Lieber Herr Steidl, bitte verzeihen Sie mir also einen nicht ganz so ernst zu nehmenden Gedanken:
Wäre Gerhard Steidl selbst ein Buch, ich stellte ihn mir vor als mit grösster Kennerschaft und Liebe zum sprechenden Detail ausgeführten Roman von Arno Schmidt. Denn wer könnte besser hineintauchen in die komplexe und ungemein spannende Psychologie eines sagen wir bibliomanen Verlegers als ein bibliomaner Autor? Der Stoff, der vor ihm läge, wäre jedenfalls herrlich.

Wer je Gerhard Steidl in seinem Verlagssitz in der Göttinger Düsteren Strasse Nummer 4 einen Besuch abgestattet hat, dürfte schon vor der Eingangstür des unscheinbaren Backsteinbaus mit den im Erdgeschoss meist herunter gelassenen Rollos gestutzt haben. Hinter dieser Tür soll sich der vielleicht beste Fotobuch-Verlag der Welt verbergen, die heute fast schon legendäre Manufaktur des Druckers Gerhard Steidl, in der im Jahr geschätzte 400 Künstler Schlange stehen, die grössten Namen der Branche, die aus aller Welt anreisen, um sich hier mit dem Verleger gemeisam über ihre Arbeiten zu beugen, Probedrucke zu begutachten und Bücher zu komponieren, von denen nicht wenige binnen kurzer Zeit zu gesuchten Sammlerpobjeketen werden? Der Verlag, in dem mit Günter Grass und Halldor Laxness auch gleich zwei Literaturnobelpreisträger zu Hause sind im Herzen eines auch literarisch und politisch anspruchsvollen Programms?

Hinter der gesichtslosen Tür in der gesichtslosen Strasse (von der ich sicher bin, dass Gerhard Steidl sie gerade ob ihrer völligen Repräsentationslosigkeit und leichten Heruntergekommenheit liebt) öffnet sich jedoch ein weit verzweigtes Arbeitsreich, das sich über mehrere Häuser und Höfe erstreckt, die über ein Labyrinth von Treppen und Gängen verbunden sind. Ich weiss nicht genau, wie viele Bücher Gerhard Steidl seit seinem Erstling, der „Befragung der Documenta“ aus dem Jahr 1972 gemacht hat, es müssen einige Tausend sein.
Die beiden Häuser in der Düsteren Strasse hat er 1979 und 1983 selbst errichtet, eines davon ursprünglich als sein Wohnhaus. Das leere Grundstück besass er da schon einige Jahre, hatte aber sich aber nicht recht getraut es zu bebauen. Ob sich da vor seinem inneren Auge schon abzeichnete, was er hier einmal erarbeiten sollte, wenn er am Wochenende seinen Liegestuhl im hohen Gras aufschlug und vor sich hin träumte? Denn der Verleger schämte sich damals etwas für seinen Besitz, er war ja Sozialist und wollte seine ganzen kommunistischen Freunde nicht vergällen. „Da ich ein eigenes Gewerbe mit Angestellten und einen dicken Volvo hatte, galt ich trotzdem als Kapitalistenschwein“, erzählte der Verleger einmal mit der ihn auszeichnenden so typisch niedersächsischen, ebenso trockenen wie nie um den Brei redenden Ernsthaftigkeit.

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Oliver Jahn hält die Laudatio (Foto: Regine Rabanus)

Gerhard Steidl, 1950 in Göttingen geboren, wuchs nur wenige hundert Meter von seinem heutigen Stammhaus in sehr einfachen Verhältnissen auf als Sohn eines Maschinenputzers des Göttinger Tagblatts auf. Die Mutter füllte erst in einem Grosshandelslager Kaffee ab, später arbeitete sie als Putzfrau, Kultur spielte kaum eine Rolle. „Ich komme überhaupt nicht aus der Welt des beau-livre“, sagte Steidl einmal, „ich war ein fettes und schüchternes Kind und habe Bücher verschlungen.“ Ein paar Bücher der Büchergilde Gutenberg gab es im Haus, aber gelesen wurde nicht. Der wissbegierige Junge jedoch war Dauergast in der Stadtbibliothek, es war zudem seine acht Jahre ältere Schwester, die eine Ausbildung zur Musikalienhändlerin machte und zu der er mittags gern in den Laden ging. Sie liess ihn Beethoven hören oder diesen Typen, der so schräg sang, Bob Dylan. Seine Texte gefielen Steidl. Timm Thaler hatte er verschlungen, den Jugendbuchklassiker von James Krüss, B. Travens Totenschiff, Jules Verne, ein bisschen Brecht in der Schule.

Mittags brachte er dem Vater das Essen im Henkelmann in die Druckerei. Hier muss es angefangen haben. Die imposanten Druckmaschinen, der Geruch der Druckerschwärze, der schwer in der Luft hing, die majestätischen Rollen von Papier. Die Wiege der Besessenheit. Mit neun Jahren entwickelte der sonst so introvertierte Junge einen Hang zum Vorlesen, einige Jahre lang rannte er, sehr zum Entsetzen seiner Eltern, morgens um sechs in die katholische Kirche und las in der Nonnenmesse mit seiner reinen Knabenstimme vor. „Das habe ich gemacht, bis ich 14 war“, erzählte Steidl kürzlich in einem Interview. „Jahrelang habe ich aus den Evangelien gelesen, danach mit den Schwestern gefrühstückt. Dann wurde ich Sozialist.“

Eine Jugend im Göttingen der sechziger Jahre, wie muss man sich die vorstellen? Der Teenager verbrachte seine Zeit gerne im „Kenter“, einem kleinen Jazzclub mit anhängender Galerie – wie man „Center“ richtig ausspricht, wussten sie damals nicht. Hier sass der junge Steidl abends an der Bar, trank Florida Boys und begann, die Appetithemmer-Tabletten, die er als Kind bekommen hatte und von denen er noch ein paar Grosspackungen im Schrank liegen hatte, an die örtlichen Junkies zu verticken. Ein bisschen Geld für die erste eigene kleine Werkstatt in der heimischen Garage. Irgendwie muss man ja anfangen.
Als nach dem Abitur alle seine Freunde in die DKP eintraten oder Maoisten waren, Salonrevoluzzer aus Büchern und Überzeugung heraus, wollte der junge Steidl selbst wissen, was los ist vor Ort und reiste auf eigene Faust mit seinem VW Käfer in die Sowjetunion. Als er in Moskau ein kleines Zelt aufschlug, war er der einzige Ausländer weit und breit und lernte Schriftsteller und Dissidenten kennen. Später dann ging er mit Lew Kopelew auf Lesereise und reiste mit Heinrich Böll in die Sowjetunion.

Politik, Kunst, Literatur. Und das Bedrucken von Papier in seiner kleinen Siebdruck-Werkstatt. Das waren also die Fixsterne seiner noch jungen Existenz in diesen Jahren. Mit Anfang zwanzig, da war er auch gerade in die SPD eingetreten, der er bis heute übrigens die Treue hält, begann er für Joseph Beuys zu arbeiten, den Grosskünstler, er löcherte ihn mit Fragen und erfuhr von ihm alles über Goethes Farbenlehre. Gemeinsam waren sie unablässig auf der Suche nach neuen Druckverfahren und tüftelten ständig mit Materialien herum. Bis zu dessen Tod 1986 druckte er die Multiples und Druckgrafiken von Beuys. „Beuys war meine Universität“, sagte Steidl einmal, Beuys, und sicher auch Klaus Staeck, dessen bissige Polit-Poster er ab 1970 zu drucken begann. Andy Warhol, den Köinig der Pop-Art, hatte er kurz zuvor auf einer Ausstellung in Köln voller Begeisterung einfach darauf angesprochen, dass dessen Siebdrucke ja immer so perfekt tiefschwarz gelängen, und wie er das denn mache. Worauf der Meister ihn prompt in die Factory nach New York einlud. Der wissbegierige Jungdrucker dürfte auch dort ein paar Tricks gelernt haben.

So ging es also los vor bald fünfzig Jahren, Multiples, politische Literatur, auch Gebrauchsware wie die Tarifvereinbarungen der IG Metall, die der Verlag bis heute druckt, dann die Belletristik, seit 1990 hält er auch die weltweiten Rechte am Werk von Günter Grass, und immer wieder gelingen kleine wunderbare Entdeckungen wie etwa die der lange vergessenen New Yorker Autorin Maeve Brennan und andere Trouvaillen mehr. Erst viele, viele Jahre später, nachdem Gerhard Steidl, immer unzufrieden mit der Druckqualität dessen, was der Markt an Fotokunst-Bänden hergab, im Verborgenen seiner Werkstatt unendlich viele Experimente und Versuche gemacht hatte, um die bestmöglichen Druckverfahren mit den unterschiedlichsten Papieren auszutüfteln, wagte er sich an ein eigenes Fotobuch-Programm. Erst als er seine Fertigkeiten soweit verfeinert hatte, dass sie seinen eigenen Ansprüchen genügten, begann er 1996 auch die Bücher zu machen, für die heute die grössten lebenden Fotokünstler der Welt nach Göttingen reisen und Schlange stehen an seiner Roland 700.

Steidlville haben seine Künstler das auf Anhieb kaum zu durchschauende Gebäudeareal in der Düsteren Strasse getauft. Hier müssen alle hin, die mit Gerhard Steidl ein Buch machen wollen, Joel Sternfeld, Robert Polidori, Jason Schmidt, David Bailey, Mitch Epstein, William Eggleston, Richard Serra, Roni Horn und unzählige andere Meister ihres Fachs. Der Verleger hat schlicht keine Lust auf komplizierte, Arbeitszeit raubende Abstimmungsprozesse und endlose Wiederholungsschleifen. Die Künstler verschwinden mit Gerhard Steidl, der seinen Verlag gern auch mal als Uboot bezeichnet, mit dem er morgens abtaucht und erst Abends wieder an die Oberfläche kommt, jeweils ein paar Tage in die Tiefe von Steidlville, diesem Kosmos aus ineinander wuchernden Häusern, Treppen, Gängen, Hühnerleitern, Höfen Arbeitskammern, Farb- und Papierlagern, Bibliothek, Küche, Esszimmer,G ästeaparments – von den Künstlern liebevoll „Halftone Hotel“ genannt – und natürlich der Druckerei im Erdgeschoss. Hinter einer Tür im Hof verbirgt sich sogar eine kleine Atelierwohnung, die sich der New Yorker Künstler Jim Dine und seine Frau einegrichtet haben. Die beiden kommen regelmässig und lieben es, unerkannt mit dem Fahrrad in der Stadt herum zu cruisen.

Alles ist einzig und allein auf den Arbeitsprozess hin optimiert, der oben unterm Dach in der Bibliothek beginnt. Hier sichtet der Verleger, der ganz bewusst ohne jeden vorgefertigten Plan an ein neues Buchprojekt heran geht, zusammen mit dem Künstler dessen Bilder, ausgebreitet an einem langen Tisch. Wer Gerhard Steidl kennt und schon einmal im Verlag besucht hat, kennt dieses Gefühl, das einen manchmal beschleicht, wenn der Verleger dann in seinem weissen Arbeitskittel vor einem steht, hoch konzentriert, auf die nächste Aufgabe fokussiert. Ehrfurchtgebietend ist er durchaus in diesen Momenten, eine unruhige, fast vibrierende Gespanntheit geht von ihm aus, die manche auch für etwas ruppig halten könnten. Man möchte ihm, der morgens um 4.30 aufsteht und meist rund 18 Stunden am Tag arbeitet, einfach nicht die Zeit stehlen. Bevor Sie allerdings jetzt in allzu viel Ehrfurcht verfallen, möchte ich an dieser Stelle erwähnen, dass Arno Schmidt um diese Uhrzeit meist schon locker ein bis zwei Stunden am Schreibtisch gesessen hatte...

Wer Gerhard Steidl je im Zusammenspiel mit seinen Künstlern gesehen hat, weiss, wo der innere Sturm des Energiewunders zur Ruhe zu kommen scheint. Wenn er mit seinen Fotografen Bilder auswählt. Ich habe das einmal mit Robert Polidori erleben dürfen. Es ist eine Freude Gerhard Steidl beim Schauen zuzuschauen, kostbar als würde man einem Maler beim Malen zusehen. Der Moment der Kreation.
Dann zieht das Tempo wieder an und der Verleger schlüpft aus der Tür, vielleicht hinunter auf die beiden Mitteletagen, wo gescannt wird, gesetzt, gelayoutet und korrigiert. Oder er hastet bereits weitere Treppen hinab in die Druckerei im Erdgeschoss, um an den Maschinen nach dem Rechten zu sehen, wo gerade vielleicht die ersten Bögen von William Egglestons neuem Buch durchlaufen. Schnell noch einen Blick in die Gänge zum Hof, wo die kostbaren Papiere lagern wie die Goldbarren in Fort Knox, dann flugs hoch zurück in sein Büro, wenn man den roten einfachen Prouvé-Stuhl und die grüne alte Schreibmaschine auf dem winzigen Tisch so nennen kann, die völlig schmucklos in einen Raum gezwängt sind, in dem riesige Stapelgebirge von Büchern, Akten und Papieren übersät von einem Wimpelmeer von Merkzetteln aufragen. Der Himalaya der Bücherwelt, er ist in Gerhard Steidls Büro zu finden. Oft – wenn er nicht gerade auf Reisen ist, er fliegt 750.000 Meilen im Jahr, um seine Fotografen und Autoren zu treffen oder seine vielen Kooperationspartner, unter denen die besten Museen und Galerien der Welt sind – sieht man den Verleger abends noch in der Druckerei den Boden fegen oder die Schneidemaschine auswischen – keine falsche Sozialromantik jedoch bitte, das ist Katharsis, Meditation, Teilhabe, Erdung.

Emails schreibt Steidl keine, nur Briefe und Faxe. Auf diese Weise kommuniziert er auch mit dem einzigen Grosskünstler, der noch nie nach Göttingen kommen musste und der natürlich in all den Berichten über Steidls Verlag einen besonderen Platz einnimmt: Karl Lagerfeld. Die beiden verbindet eine tiefe Liebe zu Papier, man kennt ja die gigantische Privatbibliothek des Pariser Modeschöpfers, sein visuelles Gedächtnis, das noch den entlegendsten Winkel der Geschichte des ästhetischen Ausdrucks erfasst. Früher oder später mussten diese beiden Männer wohl aufeinander treffen. Vor über zwanzig Jahren konnte Steidl den materialversessenen Couturier davon überzeugen, für ihn ein Buch zu machen, er hatte ihm einfach ein paar Andrucke mit Fotos geschickt und die verschiedenen Papiere und ihre Zusammensetzung erläutert. Der Rest ist Geschichte, seither kommen alle Drucksachen von Chanel, Fendi und Lagerfelds eigener Linie aus dem Hause Steidl – jedes Stück ein Kunstwerk für sich. Manche Presskits landen nach einer Chanelshow direkt bei Ebay, die fashion community ist verrückt nach dem Paperwork aus Parisgöttingen. Folgerichtig gibt es seit 15 Jahren mit der Edition 7L auch ein gemeinsames Imprint, dessen Kreativdirektor Lagerfeld ist und in dem die schönsten Entdeckungen der Fotogeschichte zu machen sind.

Zu Beginn jeder Saison reist Steidl nach Paris und ist dabei, wenn Lagerfeld die neue Kollektion fotografiert. Er sieht und fühlt die Stoffe und schlägt seinerseits Papiere vor, die harmonisch auf die eingesetzten Texturen antworten. Ein gestrichenes Papier hier, ein weiches, hochweisses Arches Velours dort, ein fein austariertes Spiel für Fingerspitzen.
Steidl liebt diesen Spagat zwischen seinen Drucksachen für die IG Metall auf der einen und dem Ancien Regime des Pariser Couturiers auf der anderen Seite, das belletristische Programm nicht zu vergessen. Von Karl Lagerfeld hat er gelernt, dass das beste Ergebnis immer dann entsteht, wenn alles aus einer Hand kommt. Wie in den Pariser Ateliers an der Rue Cambon 29 jedes Chanel-Stück durch die Hände des Meisters geht, so gibt es mit Ausnahme der Bindung keinen Arbeitsschritt bis zum fertigen Buch, der nicht in der Düsteren Strasse 4 in Göttingen vollzogen wird.

Wenn es um die physische Seite des Buches geht, um Papier, Haptik, Geruch, Gewicht, die klassischen Ingredienzen seines Handwerks, rollt Gerhard Steidl ganze Universen vor einem aus. Scheufelen, Hahnemühle, Gmund – er kann die Vorzüge von Papiermanufakturen erläutern wie erfahrene Sommeliers die von Weingütern an der Loire. Und mit der Haptik ist es nicht getan, jeder kennt den wunderbaren (oder manchmal auch olfaktorisch grauenhaften) Augenblick, in dem man ein neues Buch zum ersten Mal öffnet wie man eben auch einen Bordeaux entkorken würde – und Steidls Bücher korken nie, sondern verströmen ihren ganz eigenen Duft aus Papier, Tinte und Staub, dieses ganz eigene Bouquet, von dem kein Vielleser je genug bekommen kann. Steidls Bücher riechen auch nach zwanzig Jahren noch gut. Ihr Geheimnis liegt in den Öldrucklacken – auf dem gedruckten Buchstaben sitzt eine Spotlackierung, was dem Buch besonders in Kombination mit einem Naturpapier ein Odeur verleiht, das bleibt. Dabei erlaubt sich der Verleger auch immer einmal spielerische Ausflüge – gipfelte doch das Ringen um das Air des Buches kürzlich sogar in einer kleinen Parfum-Edition zusammen mit Geza Schön, in der tatsächlich der besondere Duft der Bücher nachempfunden wurde.

Cyan, Magenta, Gelb und Schwarz – wie das Wunder des menschlichen Körpers auf den vier Aminosäuren beruht, so fusst die Magie des Drucks im Grunde auf diesen vier Farben. In Göttingen ist ein wahrer Alchemist am Werk – und doch dient seine Kunst nicht etwa der möglichst barocken Aufplusterung der äusseren Hülle des Buches, das wäre ein grobes Missverständis. Die weiss behandschuhte Ergriffenheit der klassischen Bibliophilie dürfte Gerhard Steidl fremd sein, vielmehr geht er die Sache mit der erfahrungsgesättigten Neugier des Gerichtsmediziners an. „Ich habe keinen Respekt vor Büchern“, gab er in einem Bildband über „das Glück mit Büchern zu leben“ einmal zu Protokoll. „Ich schneide sie auf wie Leichen, schaue mir genau an, wie sie innen aussehen. Ich muss wissen, wie die Bindung gemacht ist und wie das Papier riecht.“

Am meisten reizt Gerhard Steidl heute die Realisierung eines Lebenswerkes. Die Fotografin Berenice Abbott etwa hatte einen Lebensplan für ihr Werk. Das zu entdecken und peu a peu umzusetzen interessiert ihn, gerade sind fünf Bände erschienen. Bei Robert Frank, dem grossen Dokumentaristen des amerikanischen Traums werden es wohl 40, bei Willam Eggleston 20 bis 25. So viele Schätze, die da zu heben sind, geduldig und für die alten Herren durchaus lebensverlängernd, so lustvoll und unermüdlich sind sie bei der Sache, mit dem Verleger ihre Archive zu durchpflügen.
Gleichwohl ist hier keine Gigantomanie am Werk, die auf schiere Grösse zielt und das Buch zum Sammlerobjekt machen will, sondern vielmehr eine stupende Ernsthaftigkeit, die in angemessener – und das heisst vor allem: dauerhafter Ausstattung in Sachen Einband und Papier der Fülle des Inhalts gerecht werden möchte. Ein Buch über Richard Serra in Stahlplatten einzubinden und ans MoMA zu verkaufen wäre Gerhard Steidls Sache nicht.

Gerhard Steidl ist glaube ich kein Mensch, der aus der Vergangenheit schöpft, sein Tun ist immer schnell, bestens organisiert und immer streng nach vorn gerichtet auf das nächste, die kommenden Projekte. Ganz wie sein Lehrmeister Karl Lagerfeld. „Paradise now!“ hat der kürzlich seinen Widerwillen zur vergangenheitslüsternen Nabelschau einmal genannt. Das Heute zählt.

Noch einmal der alte Arno Schmidt, dem allzuviel Herumgründeln in der Lebensgeschichte eines Autors nicht nur Widerwillen erzeugte, sondern für jedes Erkenntnisinteresse auch recht sinnlos erschien: „Der Künstler hat nur die Wahl, ob er als Mensch existieren will oder als Werk. Im zweiten Fall besieht man sich den defekten Rest besser nicht.“

Lieber Gerhard Steidl, ich hoffe Sie verzeihen es mir, wenn ich doch nachgesehen habe – ganz subjektiv aus der Perspektive des Bewunderers Ihrer Arbeit heraus, um ein wenig Aufschluss zu gewinnen über die innere Verfassung Ihrer Passion, sozusagen der Blick ins offene Herz der vielleicht schönsten Obsession, die es gibt: die für Bücher. Der Verleger freilich lässt sich lieber von seinen Büchern vertreten. „Meine Bücher halten ewig“, hat er einmal gesagt, ohne jeden muskulösen Stolz, sondern mit der unumstösslichen Gewissheit des altgedienten Handwerkers, der um die Solidität seiner Arbeit weiss.

Ganz so wie unserer niedersächsischer Gewährsmann, Arno Schmidt. Gefreut hat der sich nämlich dann doch über seinen Goethepreis. Am Ende seiner Dankesrede bringt er es noch einmal auf den Punkt: Was zählt, sind einzig und allein die Bücher, mit Beharrlichkeit, Meisterschaft und Liebe in die Welt gesetzt. Ich denke, Gerhard Steidl würde es unterschreiben, wenn Schmidt mit den Worten schliesst: „Aber genug: ich möchte mich hier nicht wiederholen: es steht schliesslich alles in meinen Büchern: die praktischen Handübungen, wie die theoretischen Aufsätze, die guten Lehren, und die bösen Beispiele. Einzig das sei noch einmal betont, wie das Zustandekommen solcher umfangreicher Gebilde nicht wenig erfordert: die Kenntnis der für uns zuständigen, anregenden Vorgänger. Eine nach Kräften fein gemachte und geübte Hand. Und endlich viel tausendstündige Mühsal.“

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